Geschichte des Herrschaftshauses Reuss

Die historischen Wurzeln der bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bestehenden souveränen deutschen Fürstentümer Reuß jüngerer Linie und Reuß älterer Linie liegen im 12. Jahrhundert. Die Fürsten Reuß sind vermutlich das einzige regierende deutsche Fürstenhaus, dessen Vorfahren aus dem Ministerialenstand erwuchsen. Das ursprünglich welfische, im nördlichen Thüringen ansässige Ministerialengeschlecht erhielt von Kaiser Friedrich Barbarossa (1152-1190) das beiderseits der Weißen Elster im heutigen Ostthüringen gelegene Gebiet als Reichslehen. Damit ist diese Reichsministerialenfamilie in der Germania Slavica Thüringens, d.h. in dem von Deutschen und Slawen gleichermaßen locker besiedelten Gebiet, ganz unmittelbar mit dem mittelalterlichen Landausbau der Staufer verbunden.

Eine Urkunde von 1209 ist die älteste Überlieferung für jene Familie als Vögte von Weida. Den Namen „Vogtland“, von dem aus die Begriffe des Sächsischen, Thüringischen, Böhmischen und Bayrischen Vogtlandes gebildet worden sind und mit denen heute die Landschaft an der Oberen Saale und beiderseits der Weißen Elster zwischen Frankenwald, Fichtelgebirge und Erzgebirge bezeichnet wird, leitet man von diesen Vögten von Weida her. Dabei bedeutet das Wort „Vogt“ einen landesherrlichen Verwaltungsbeamten, Schirmherren oder Richter bzw. einen juristischen Vertreter von nicht rechtsfähigen Institutionen. Es wurde entlehnt aus dem mittellateinischen „vocatus“, einer Kürzung des lateinischen „advocatus“, dem eigentlich „in einem Rechtsstreit zur Hilfe Herbeigerufenen“. Mit der 1343 erstmals urkundlich genannten „terra advocatorum“ war jedoch kein festumgrenztes Gebiet, sondern nur der Besitz der Vögte, „der vogte lant“, gemeint. Die Familie selbst führte dann nur bis etwa 1380 die Bezeichnung „Vögte von Weida“.

Weitaus besser kenntlich wird dieses Adelsgeschlecht im Leitnamen als das Geschlecht der Heinrichinger. Denn ab etwa 1130 bis heute tradiert diese Familie wie keine andere in deutscher Geschichte den Namen Heinrich. Damit ist eine der ältesten und bedeutenderen politischen und kulturellen Kräfte im heute mit mitteldeutsch bezeichneten Raum gefasst. Wurden zu Beginn die Heinriche durch Beinamen voneinander unterschieden, wie etwa der Fromme, der Reiche oder der Böhme und der Reuße, so begann Heinrich Posthumus (1572-1635) mit der Zählung, indem er seine zehn Söhne von I. bis X. durchnummerierte.

Die ersten Vertreter der Familie waren Erkenbert I. und dessen Sohn Erkenbert II. Letzterer verlegte seinen Sitz, der sich ursprünglich in Veitsberg befand, in das Weidatal und wurde Gründer der Altstadt von Weida. Dessen Sohn Heinrich I. erbaute die Osterburg zwischen 1163 und 1193. Weida wurde zur „Wiege des Vogtlandes“. Vor 1238 und 1244 teilten die Söhne Heinrichs des Reichen ihren ererbten Besitz, es entstanden die Linien der Vögte von Weida, Gera und Plauen. Letztere teilten sich 1306 in eine ältere Linie – die spätere burggräfliche Linie – und in eine jüngere Linie, die ihren Sitz in Greiz nahm. Ab 1307 übernahm Heinrich II. von Plauen zu Greiz den Zunamen Reuß (Ruthenus bzw. Rusze) von seinem Vater. Über den Ursprung des Namen Reuß gibt es bis heute keine gesicherten Erkenntnisse sondern nur Vermutungen. So soll sich Heinrich I. von Plauen um 1247 militärischen Ruhm durch seine Taten gegen die Polen und westlichen Russen erworben und dadurch den Beinamen „Ruzze“, „Reuße“ oder „Ruthene“ erhalten haben. Nach anderen Berichten habe sich ein Herr von Plauen mit einer russischen Fürstin vermählt, wodurch das Geschlecht der Reußen zu seinem Namen gekommen sei. Doch sind auch andere innerfamiliäre Gründe denkbar, die heute vergessen sind.

Die Heinrichingerlinien der Vögte und Herren von Weida, Gera und Plauen starben 1531, 1550 beziehungsweise 1572 aus. Allein übrig blieben die Reußen von Plauen zu Greiz, die während des Schmalkaldischen Krieges (1546/47) aus dem sächsischen Lehnsverband ausschieden und unter die Lehnshoheit der böhmischen Krone kamen. 1564 teilten sie sich in die späteren Hauptlinien Reuß älterer Linie (Greiz) und Reuß jüngerer Linie (Gera, Schleiz, Lobenstein und Ebersdorf) sowie in die bereits 1616 wieder ausgestorbene mittlerer Linie (Obergreiz).
Ihr Besitz blieb in den folgenden 350 Jahren im wesentlichen erhalten, wurde aber durch zahlreiche Teilungen existenzbedrohlich zersplittert. So bestanden zum Ende des 17. Jahrhunderts innerhalb der beiden reußischen Hauptlinien gleichzeitig zehn regierende Linien nebeneinander. Um eine weitere Aufteilung zu verhindern wurde 1690 die Primogeniturordnung (das Recht des Erstgeborenen, das ungeteilte väterliche Territorium zu erben) eingeführt. 1673 wurden alle Reußen zu Reichsgrafen ernannt. 1778 wurde die ältere Linie Reuß in den Reichsfürstenstand erhoben. Innerhalb der jüngeren Linie Reuß erlangte Lobenstein 1790 die Reichsfürstenwürde. Lobenstein-Selbitz und Ebersdorf erhielten die Reichsfürstenwürde erst am 9. April 1806. Mit der Auflösung des mittelalterlichen Deutschen Reiches im August 1806 wurden alle reußischen Landesherren souverän. Sie traten am 18. April 1807 dem Rheinbund bei und gehörten ihm bis zu seinem Zerfall im November 1813 an. Auf dem Wiener Kongress von 1815 konnte die Selbständigkeit der reußischen Fürstentümer nur mit größter Mühe und durch den Einfluss Österreichs bewahrt werden. Insbesondere Fürst Heinrich XIII. Reuß älterer Linie (1747-1817), der kaiserlich könglicher General-Feldzeugmeister war, soll seine guten Verbindungen zum Kaiserhof benutzt haben, um die Rechte der Reußen zu wahren. Nachdem bereits 1768 alle Teilherrschaften der älteren Linie wieder in einer Hand mit dem Sitz in Greiz vereinigt worden waren, wurde am 1. Oktober 1848 aus den Teilherrschaften Schleiz, Lobenstein-Ebersdorf und Gera das Fürstentum jüngere Linie mit der Haupt- und Residenzstadt Gera gebildet. Nach dem Tode Fürst Heinrich XXII. älterer Linie im Jahre 1902 führte Fürst Heinrich XIV. Reuß jüngerer Linie (1832-1913) und seit 1908 dessen Sohn Heinrich XXVII. (1858-1929) die Regentschaft für Reuß älterer Linie. Nach der Abdankung Heinrichs XXVII. am 10. November 1918 entstanden die Freistaaten Reuß ä. L. und Reuß j. L., die sich im April 1919 zum Volksstaat Reuß mit der Hauptstadt Gera zusammenschlossen. Mit Wirkung vom 1. Mai 1920 ging der Volksstaat Reuß mit den anderen sechs thüringischen Staaten im neu gebildeten Land Thüringen auf.

Das Fürstentum Reuß ä. L. war nach der Reichsgründung 1871 mit 316 Quadratkilometern und 72 769 Einwohnern der wohl kleinste deutsche Bundesstaat. Das Fürstentum Reuß j. L. umfasste 1910 eine Fläche von 827 Quadratkilometern mit 152 752 Einwohnern. In dieser Kleinheit stehen die Reußenlande zusammen mit all den anderen thüringischen Herrschaften für deutsche Kleinstaaterei und als Gegensatz zum Nachbarland Sachsen, in dem das Vogtland traditionsgemäß von Dresden aus zentralstaatlich gelenkt und verwaltet wurde. Gleichwohl stehen die ehemaligen Residenzen der Reußen heute für das jeweils eigenstaatliche Gebiet ihrer Machthaber in allen Facetten des Regierens und Repräsentierens mit einer jeweils eigenen höfischen und staatsbürgerlichen Kultur. Zahlreiche Burgen, Schlösser, Parks und öffentliche Bauten in den Städten entlang der „Reußischen Fürstenstraße“, die sich auf 110 Kilometer Länge zwischen Bad Köstritz und Lobenstein erstreckt, geben davon noch heute beredtes Zeugnis.